Die Glosse von Robert Hofrichter: Geht es „uns“ 34 Jahre nach dem Fall des Ostblocks „schon“ besser?

Geschichte
9. Januar 2023

Vor einigen Jahren ging ich in Salzburg mit meiner Frau in eine Tanzrunde, in der sich reifere Herrschaften Händchen haltend und im Kreis tanzend an Volkstänzen erfreuen. Dem letzten Tanz folgte ein gemütliches Beisammensein. Wir frönten dem mitgebrachten Weihnachtsgebäck, tranken den einen oder anderen edlen Tropfen und unterhielten uns über Gott und die Welt. Da ich neu in der Runde war, erzählte ich etwas von meiner Lebensgeschichte.

Die Dächer von Bratislava (Foto: Robert Hofrichter)

 

Mitleidvoll und mit besorgter Miene fragte mich daraufhin eine ausgesprochen sympathische Dame, „ob es uns jetzt schon besser geht“. Im ersten Augenblick verstand ich nicht und sah sie verständnislos an …
Oder, warum soll ich hier etwas vortäuschen: Es dauerte nur Bruchteile einer Sekunde und ich verstand. Es war doch nicht zum ersten Mal.

Und das ist die Kluft, und das ist schlimm, schreibt der Österreicher Martin Leidenfrost, der seit Jahren bei Bratislava lebt, in seinem Buch „Die Welt hinter Wien“. Nch Jahren seines slowakischen Exils noch erschien ihm sein neues Heimatland oft unerreichbar fremd. Er blickt in ein „tiefes, schwarzes Loch“, wenn er von der ungeschminkten Wahrheit über die Beziehung der Österreicher und Slowaken spricht. Was wäre, wenn die Slowakei und Österreich wirtschaftlich auf gleicher Augenhöhe stünden? Und: Gesetzt den Fall, auf der anderen Seite wäre kein Vorteil mehr zu holen – hätten die Völkchen der Gegend dann überhaupt noch miteinander zu tun?

Leidenfrost zitierte in seinem Buch eine österreichische Mutter in einem großen Einkaufszentrum, die ihr Kind fest umschlossen hielt, weil ja bekannt sein sollte, dass die Slowaken immer wieder Kinder entführen.

Salzburg in den 80-er Jahren (Foto: Robert Hofrichter)

 

Ich lebe seit 1981 in Salzburg, das sind bald 42 Jahre, und damit den größeren Teil meines Lebens, um noch genauer zu sein, zwei Drittel. Ich habe einen deutschen Namen, mein Großvater Hofrichter war ein gebürtiger Wiener. Die mütterliche Linie hingegen trug und trägt den Namen Altdorffer. Geboren bin ich in Bratislava oder Pressburg, einer Stadt, die immer schon überwiegend deutsch war. Dennoch war meine Muttersprache mehr Ungarisch als Deutsch. Slowakisch wurde in unserer Familie kaum gesprochen. Ich habe aber slowakische Schulen in einem Staat namens Tschechoslowakei besucht, den es seit ziemlich genau 30 Jahren nicht mehr gibt.

Ob es „uns“ schon besser geht, fragte mich also die nette Dame aus der Tanzrunde. Wen genau hat sie mit „uns“ gemeint? Welche meiner Identitäten sollte sich angesprochen fühlen? Um welche Gemeinschaft sollte es dabei gehen, um sämtliche ehemalige Staatsbürger der einstigen Tschechoslowakei, um die Dissidenten, um die Slowaken unter ihnen, oder eher die Deutschen oder doch die Ungarn? Um die Kommunisten oder die Gegner des totalitären Regimes? Und was sollte in diesem Zusammenhang das Adverb „schon“ bedeuten? Nach Duden drückt das Wort “schon” unter anderem aus, dass kurz nach dem Eintreten eines Vorgangs ein anderer Vorgang so schnell, plötzlich folgt, dass der Zeitunterschied kaum feststellbar oder nachvollziehbar ist. Doch zum Zeitpunkt des Gesprächs redeten wir bereits von mehr als einem Vierteljahrhundert, das da seitdem vergangen ist. In diesem Vierteljahrhundert ist die ganze Welt eine andere geworden. Die Wende fand im Spätherbst 1989 statt. Wie schlecht ging es „uns“ vorher, wobei wir immer noch wissen, wer “wir” sein sollten? Abgesehen von der Tatsache, dass die ČSSR zwischen 1998 und ihrem Untergang im November 1989 kein freies, demokratisches Land war. Und das bedeutet konkret: In Freiheit und Demokratie lebt es sich immer besser als in Unfreiheit und Diktatur (des Proletariats; rein theoretisch freilich, denn in Wirklichkeit diktierten uns die UdSSR, im Volksmund “die Russen”, und die Führungsriege der Kommunistischen Parten was zu denken und zu tun ist, das Proletariat hatte bloß zu gehorchen).

Sind die heutigen Nachfolgestaaten der ČSSR, die Tschechische und Slowakische Republik, frei in einem „absoluten Sinn“? Der wunderbare Václav Havel träumte nach dem Fall des Ostblocks auf rückblickend naive Weise von einer besseren, nicht ausschließlich kapitalistischen Welt. Rein gar nichts ist aus ihr geworden. Österreich gehört zu jenen westlichen Ländern, die an der Entwicklung zum Turbokapitalismus und Globalisierung das größte Verdienst haben. Leidenfrost schreibt: „Der Österreicher, ob er will oder nicht, betritt ein Land wie die Slowakei als Kolonisator. Selbst wenn er nicht kolonisieren will, macht ihn seine Kaufkraft dazu … Auf der anderen Seite … Ob er will oder nicht, fühlt sich der Slowake kolonisiert. Die überproportionalen Gewinnmargen der westlichen Konzerne hat er bezahlt.“

In Bratislava gibt es ungleich mehr überdimensionale, pompöse Einkaufszentren als etwa in Salzburg, der Stadt, in der ich (gelegentlich) lebe. Ich meine diese Produkte der Globalisierung der internationalen Konzerne wie Tesco; in Salzburg findet sich das Kaufhaus nicht. In diesen Tempeln der Moderne geben sich die Menschen genauso wie in Österreich dem Kaufrausch hin, obwohl ihre Kaufkraft statistisch gesehen zweifellos geringer als die der Österreicher bleibt. Und das auch noch einige Jahre später, die seit der merkwürdigen Frage vergangen sind. Doch gibt es genug solche slowakische Bürger, auf die das bestimmt nicht zutrifft …

Ich hätte der Dame gern mehr Authentisches über die Geschichte meiner Geburtsstadt erzählt. Doch wäre das ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Um diese erschöpfend erklären zu können, hätte selbst ein mehrstündiger Vortrag nicht gereicht. Zwischenzeitlich ist ohnehin alles wieder anders. Wir hatten nach 100 Jahren wieder eine weltweite Pandemie. Und dann ist in Europa ein brutaler, “heißer” Krieg eingezogen, etwas, womit wir nicht mehr gerechnet haben. Die Aggressoren bleiben gleich: Es sind die, die 1968 die Tschechoslowakei überfallen haben, um das zarte Pflänzchen der Demokratie und des Liberalismus zu zerstören.

Eine Erinnerung an den Eisernen Vorhang in Devínska Nová Ves (Foto: Robert Hofrichter)

 

Mir persönlich geht es gut, und es ging mir bis auf eine kurze Kollision mit der Staatsmacht der Tschechoslowakei in jüngeren Jahren nie schlecht. Ich kann aufrichtig berichten, dass ich persönlich niemanden kannte, dem es schlecht ging. Unser tägliches Leben war nicht anders als das der Österreicher einige hundert Meter weiter westlich – außer, dass sich die vielleicht nicht in eine Schlange stellen mussten, um Bananen zu kaufen, welche es außerdem nicht jeden Tag gegeben hat. Oder auch längere Zeiten nicht. Manchmal auch über Monate …

Ab und zu gab es planwirtschaftliche Engpässe beim Toilettenpapier, dieses war nie dreilagig und auch nicht besonders weich. Manche Menschen griffen dann zum aufgeschnittenen Zeitungspapier, auf dem jene kommunistische Politiker zu sehen waren, die uns täglich erzählt hatten, dass es uns gut geht und wir den 5-Jahres-Plan bereits auf unglaubliche 137 Prozent erfüllt hätten. Und das um mindestens sieben Wochen vor dem ursprünglichen Termin. Die Verwendung dieses Papiers empfanden wir in jenen Augenblicken nicht weiter als tragisch, sie bedeutete für uns eine gewisse Genugtuung … In Lemberg übrigens, der wunderbaren Stadt, die an die k.u.k.-Monarchie erinnert, konnte man schon seit Jahren Toilettenpapier mit dem Portrait des Kriegstreibers aus dem großen Nachbarland kaufen.

Heute würde ich jeden gern einladen, egal aus welchem Land er stammt, über die einleitend gestellte Frage nachzudenken: Geht es uns heute schon besser? Besser, weil die Welt sicherer ist? Weil wir uns nur die Wahrheit erzählen und keiner Gehirnwäsche mehr glauben? Besser, weil wir auf unserem Planeten einer guten Zukunft entgegenblicken? Weil Technik und Wissenschaft alle globalen Probleme lösen werden? Übrigens, ich habe gerade etwas über Giftstoffe in unserem Salaten gelesen. Er stammt aus dem Reifenabrieb unserer Autos. Nicht so schlimm, findet sich auch schon in der Antarktis. Ob es der Dame, die immer im Wohlstand gelebt hat, ihren, Kindern und Kindeskindern besser gehen wird als den Menschen, die einst hinter einer historischen, aber heute schon völlig imaginären Grenze gelebt haben?

Robert Hofrichter

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